Der andere Blick
Das Gegröle auf der Insel war abscheulich. Aber über die nationale Hysterie, die darauf folgte, kann man nur noch den Kopf schütteln.
Susanne Gaschke, Berlin
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Sie lesen einen Auszug aus dem werktäglichen Newsletter «Der andere Blick», heute von Susanne Gaschke, Autorin der NZZ Deutschland. Abonnieren Sie den Newsletter kostenlos. Nicht in Deutschland wohnhaft? Hier profitieren.
Auf der deutschen Nordseeinsel Sylt haben ein paar offenbar Betrunkene anlässlich einer Pfingstparty «Deutschland den Deutschen, Ausländer raus» gegrölt. Das meldet die öffentlichrechtliche «Tagesschau» am vergangenen Freitag, noch bevor sie über die verzweifelte Lage an der ukrainischen Front und die ausweglose Situation im Nahen Osten berichtet. Was seither geschieht, kann man nur als kollektiv imaginierte Staatskrise bezeichnen. Deutschland schaltet in den moralischen Overdrive.
Die Bundesinnenministerin, der Bundeskanzler, die Bundestagspräsidentin und schliesslich sogar der Bundespräsident: Sie alle äussern sich. «Schande für Deutschland», «rassistisch», «menschenverachtend», «eklig», «wohlstandsverwahrloste Parallelgesellschaft» und «Höchststrafe» (für Volksverhetzung) sind Begriffe, die fallen.
Der Staatsschutz ermittelt gegen die Sänger von Sylt. Im Internet werden diese – mit Klarnamen – an den Pranger gestellt und verlieren daraufhin teilweise ihre Jobs in der richtigen Welt. Volksfeste verbieten das ursprüngliche, völlig harmlose Lied «L’amour toujours» des Italieners Gigi D’Agostino – aus Sorge, es könnte wieder zweckentfremdet werden. Reporter besuchen den Tatort auf der Insel und schildern fassungslos, dass dort in der Abendsonne tatsächlich schon wieder entspannt Gin Tonic getrunken werde. Schlimm!
Womit kann man heute provozieren?
Kein Zweifel: Das Pfingst-Gegröle war pubertär, dumm und stossend. Es ist ein weiterer Beleg dafür, dass Betrunkene nur selten brauchbare politische Urteile von sich geben. «Pubertär» ist aber in diesem Kontext das zentrale Stichwort. In einer infantilisierten Gesellschaft können auch Menschen in ihren Zwanzigern noch als Pubertierende gelesen werden, so wie die hopsenden, sich selbst mit der Handykamera filmenden «Ausländer raus»-Sänger von Kampen.
Und was tun Pubertierende? Genau: Sie provozieren, verletzen Grenzen und wollen Erwachsene bis aufs Blut reizen. Wie aber schafft man das in einer Gesellschaft, in der weite Teile von Politik und Medien ihr linkes und grünes Weltbild absolut setzen? Ganz einfach: mit allem, was rechts ist.
Man tut den politisch korrekten Eltern weh, indem man gegen den inklusiven, diskriminierungsfreien, achtsamen, klimabewussten Zeitgeist angrölt. Ein linker Tabubruch ist heute nur noch schwer zu bewerkstelligen. Die Klima-Kleber von der Letzten Generation haben es versucht, und wohin hat es sie gebracht? In die Talkshows.
Auch ein Teil der Umfragewerte der Rechtspartei AfD dürfte sich mit einer solchen Trotzhaltung erklären lassen. Thomas Petersen vom Institut für Demoskopie Allensbach hat zu diesem Themenkomplex vor kurzem den französischen Philosophen Alexis de Tocqueville zitiert. Der schrieb vor fast 200 Jahren, in der freien Gesellschaft bestehe die Gefahr, dass der Staat immer mehr Zuständigkeiten an sich ziehe, bis die Regierenden schliesslich ihre Aufgabe darin sähen, den Bürger «zu leiten und zu beraten und notfalls gegen seinen Willen glücklich zu machen».
Regierende als Erzieher
Diese Beobachtung tönt auch in Bezug auf die Vertreter der Berliner Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP schlüssig. Indizien dafür, dass sich Regierungspolitiker mit medialer Verstärkung zu Erziehern der Bürger aufschwingen, gibt es einige.
Das beginnt mit dem Ton des Bundeskanzlers, der sich selbst «Besonnenheit» bescheinigt und allen anderen damit implizit vorwirft, weniger besonnen oder verständig zu sein. Es führt über einen Europawahlkampf der Einwortsätze («Frieden», «Gerechtigkeit») zu einem «Demokratiefest» im Berliner Regierungsviertel, das an Mitmachtheater und Kindergarten erinnert. Und es hört bei regierungsamtlich empfohlenen Demonstrationen «gegen rechts» nicht auf.
All dies bedeutet nicht, dass man sich im Fall Kampen nicht deutlich mehr Interventionsmut von den Umstehenden gewünscht hätte. Die beherzte Frage, ob die Krakeeler eigentlich noch alle Tassen im Schrank hätten, gerne kombiniert mit einem langfristigen Hausverbot, hätte möglicherweise für mehr unmittelbare Orientierung gesorgt als Internetpranger, Staatsschutz und Hyperempörung.
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Michael Sievers
Eine jugendliche Dummheit ist kein Fall für den Staatsschutz!Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, Frau Gaschke. Vor zwei Jahren, als der Song "Layla" als diskriminierende und höllische Scheußlichkeit gebrandmarkt wurde, lief das Lied auf jeder Party rauf und runter. Und womit? Mit Recht! Die meisten Menschen haben von dieser ganzen Empörungs- und Belehrungssuppe die Nase voll, nicht nur die Jugendlichen. Die Blase aus moralisierenden Politikern, selbst oft genug mit Dreck am Stecken, und einem ÖRR mit sehr selektiver Wahrnehmung gleicht mittlerweile einer Art Muppet-Show. Man mag das ganze Gesülze nicht mehr hören, wendet sich ab, denkt sich seinen Teil und wünscht sich von Zeit zu Zeit an einen anderen Ort.
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R. G.
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Dieses Deutschland kann niemand mehr ernst nehmen.Ich will nicht falsch verstanden werden: ich finde diese ausländerfeindlichen Gröhlereien nicht akzeptabel, aber die Reaktion der linken Parteien in Deutschland ist maßlos überzogen. Und mich erregen die Videoaufnahmen von Kalifat-skandierenden Islamisten mehr. Und dieses Gemenge von zweierlei Maß der Regierung und tatsächlich bedrohlichem Verhalten radikaler Fremder wird noch mehr Ausländerfeindlichkeit provozieren. Denn man bekommt klar den Eindruck, dass Deutsche sehr viel strenger beurteilt werden als Fremde, selbst als solche Fremde, die irregulär nach Deutschland gekommen sind. Und das geht nicht. Die Regierung hat eine klare Verpflichtung gegenüber der eigenen Bevölkerung per Amtseid und muss dieser endlich nachkommen. Aber gerade die Grünen meinen ja tatsächlich, dass ein Mensch dunkler Hautfarbe mehr wert ist und dass sich Weiße grundsätzlich schuldig fühlen müssen, wegen ihrer Privilegien. Diese Ideologie ist grundsätzlich falsch und könnte sogar zu einem regelrechten Bürgerkrieg führen. Bei uns in der Schweiz gibt es ähnliche Übertreibungen der Linken und wir tun gut daran eine gesunde Balance zu bewahren.
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